33 Songs: Nr.6

von Wolfgang Pollanz

6

Noir Désir

Le Vent Nous Portera

Der erste, der mich für Musik aus Frankreich begeistern konnte, war Michel Polnareff. Zugegeben, irgendwie war damals, als Alben noch wirkliche Alben waren, also ein „Sammelbehältnis in Buchform“, unter die Singles, die mein Bruder und ich damals entweder in diversen Elektrogeschäften kauften oder zu Geburtstagen oder zu Weihnachten geschenkt bekamen, auch eine von Gilbert Becaud geraten, jenem franzöischen Chansonnier, der sich selbst gerne auch das Attribut „Monsieur 100.000 Volt“ gab. Wohl weil ich damals eine Schule besuchte, in der nicht Englisch, sondern Französisch die erste lebende Fremdsprache war, habe ich die Anfangszeilen des Chansons nach so vielen Jahren noch immer in wörtlicher Erinnerung: „La place rouge était vide, devant moi marchais Nathalie, il avait un jolie nom, mon guide“. Eine wahre Schmonzette über eine Liebesnacht mit einer russischen Frau, ein romantisch verklärter Text, der von der Exotik der Sowjet-Union und der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang des Jahres 1964 handelt, die man damals nur als Klischees wahrnahm, einerseits als männliche oder auch weibliche Apparatschiks in grauer Uniformiertheit, andererseits als von verbotener Erotik aufgeladene sexhungrige Ostblockschönheiten, die möglicherweise hinter diesen offiziellen Fassaden steckten.

Die Platte von Michel Polnareff war eine Single-EP mit vier Nummern, der Titelsong „La Poupée Qui Fait Non“ machte den Sänger berühmt, und im Sommer 1966 spielten wir sie während eines Urlaubs bei den Verwandten in Kärnten mit dem neuen Dual-Plattenspieler rauf und runter und betranken uns gemeinsam mit den Cousinen mit dem Eierlikör aus der geheimen Bar des Onkels, der immer erst spät abends nach Hause kam.  Auf dem Cover der Single schaut einem der Sänger, dessen Vater ein exilrussischer Jazzpianist war, sympathisch und unverblümt entgegen, 1966 noch ohne seine bekannte weiße Sonnenbrille, die er ursprünglich eines Augenleidens wegen tragen musste, die dann aber zu einem Markenzeichen wurde, das man auf einer ganzen Reihe seiner LP-Cover sehen kann. Von Polnareffs erster Single gab es auch eine deutsche Version, „Meine Puppe Sagt Non“ mit den denkwürdigen Zeilen „so schön ist sie, sie sagt niemals oui“. Auf der Rückseite gibt es den Song „Beatnik“, aus dem die deutschen Texter eine „Gammlerballade“ mit den denkwürdigen Zeilen „auf Freunde lasst uns fahren als Gammler mit langen Haaren“ gemacht haben.

Affinitäten zur deutschen Sprache kann man Noir Désir nicht nachsagen. Allerdings gibt es von ihrem bekanntesten Song eine Version von einem gewissen Felix Meyer, gehört haben muss man dessen „Der Wind trägt uns davon“ nicht, die Übersetzung hält sich zumindest im Refrain in etwa an das Original. Dieses beginnt mit der Zeile „je n’ai pas peur de la route“; es geht in dem Text darum, dass man kein Angst haben soll, vor dem, was auf einen zukommt, was, wörtlich, „eines Tages an deine Tür klopft“, alles könne man meistern, denn, so heißt es weniger kryptisch als unscharf formuliert im Titel gebenden Refrain, „le vent nous portera“, also „der Wind wird uns tragen“. Eigentlich ein sehr optimistischer Text, zu dem auch die leichte Musik passt, die nicht von ungefähr an Manu Chao erinnert, war dieser doch an der Aufnahme dieses Songs von „Des Visages, Des Figures“ beteiligt, dem Album der Band aus dem Jahr 2001, dessen andere Songs von einer weitaus weniger leichten Grundstimmung sind.

Ob dem Sänger der Band Bertrand Cantat die prophetischen Zeilen dieses Songs jemals in den Sinn gekommen sind, während er wegen Totschlags in Litauen und später in Frankreich im Gefängnis saß, ist nicht verbürgt, aber sehr wahrscheinlich. Cantats Freundin Marie Trintignant, die Schauspielerin und Tochter von Jean-Louis Trintignant, hatte sich in Vilnius zu Dreharbeiten aufgehalten, in der Nacht des 26.Juli 2003  war es wegen einer SMS von Trintignants Noch-Ehemann zu einem Streit, einer Eifersuchtsszene gekommen, die derart eskalierte, dass Cantat seine Freundin ins Koma prügelte und danach stundenlang ihren lebensbedrohlichen Zustand nicht erkannte. Viel ist damals spekuliert worden über Alkohol, Drogen und die angebliche Hysterie Marie Trintignants. Bei ihrem Begräbnis auf dem Pariser Prominenten-Friedhof Père Lachaise war alles anwesend, was in Frankreich Rang und Namen hatte, die Affäre beschäftigte wochenlang die französischen Medien. Cantat wurde 2007 wegen guter Führung entlassen und lebt heute wieder in Frankreich. Natalie Trintignant, die Mutter von Marie, hat ein Buch über ihre Tochter geschrieben, in dem sie den Sänger von Noir Désir gezählte 85mal als Mörder bezeichnet. Er tritt inzwischen auch wieder als Musiker auf, ob seine alte Band, die 25 Jahre lang wichtiger Bestandteil des französischen Rockszene war, nach ihrer endgültigen Trennung 2010 jemals wieder zusammen kommen wird, weiß zur Zeit wohl nur der Wind. Bleiben wird auf jeden Fall dieses großartige Album, auf dem sich dieser scheinbar luftige Song befindet.

[Die ungekürzte Version dieses Artikels erscheint 2013 in der Edition Keiper in der Publikation „Wolfgang Pollanz – 33 Songs“]